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Peter Sander

Vom Hören der Botschaft und dem Glauben daran – VwGH 9.9.2015, 2013/03/0120


Der vom VwGH aufgestellte Vorrang des Messens vor dem Rechnen wurde in der Praxis von Projektwerbern kritisiert (vgl statt aller zB Lindner/Lechner, Lärm: Messen – Rechnen – Schätzen?, RdU-UT 2008/8 [26]). Er überspanne insbesondere bei Linienvorhaben, bei der mitunter tausende Immissionspunkte relevant sind, die Anforderungen an die entsprechenden Fachbeiträge in qualitativer und quantitativer Hinsicht.

Aber auch aus fachlicher Sicht sprechen gewichtigte Argumente gegen den Vorrang des Messens. Kirisits brachte seine Kritik zum “Primat des Messens” bei der Veranstaltung auf der BOKU “Lärmrecht in Bewegung” am 18.6.2015 wie folgt auf den Punkt:

“Grundsätzlich ist nach der Rechtsprechung immer Messungen der Vorrang vor den Berechnungen zu geben. Das ist für mich als Physiker ein Stich ins Herz. Natürlich haben wir jahrelang auch gemessen. Physiker haben sich beispielsweise in der Antike damit beschäftigt herauszufinden, ob sich die Sonne um die Erde dreht oder umgekehrt, und sind zum Schluss gekommen, die Erde bewegt sich um die Sonne. Daraus haben sie dann ein Berechnungsmodell entwickelt. Mit diesem Modell kann ich zB berechnen, wann morgen Früh die Sonne aufgeht. Sie wird morgen um 5.32 Uhr aufgehen. Ein Modell, das durch viele Messungen abgesichert ist und morgen gilt. Und jetzt kommt der VwGH und sagt, ‘das glaube ich nicht. Messen Sie morgen, wann die Sonne aufgeht. Weil die Messung ist immer vorrangig zu sehen.’ … Selbstverständlich beruhen die Modellberechnungen auf einer Vielzahl von experimentalphysikalischen Grundlagen. Es wurden Parameter erhoben, die verifiziert wurden, letztendlich sind sie in einem Modell gelandet. Wenn man sagt, die Erde dreht sich um die Sonne, dann muss ich nicht bei jedem Verfahren immer wieder hinterfragen, ob das tatsächlich so ist.

Seine Judikaturlinie zu diesem Punkt hat nun der VwGH zur ÖBB-Strecke Linz Summerau zwar fortgeschrieben, ist dabei aber auch ausdrücklich auf die Kritik der mitbeteiligten Partei am Primat des Messens eingegangen (Seite 44): “Der Verwaltungsgerichtshof verkennt nicht, dass -­ worauf auch die meteiligte Partei in ihrer Gegenschrift hinweist -­ bei einem sich über etliche Kilometer ziehenden lärmemittierenden Linienvorhaben, wie dem gegenständlichen Projekt, die Durchführung von Messungen an einer Vielzahl von Immissionspunkten die Verwirklichung eines derartigen Vorhabens unangemessen erschweren würde.”

In der Folge hat er die Anforderungen an den Umfang von Messungen – aus meiner Sicht – in sinnvoller Weise präzisiert und insofern eingeschränkt (Seite 45):

“Derart ist es bei einem solchen Vorhaben nicht von vornherein erforderlich, an jedem möglichen Immissionspunkt eine entsprechende Messung durchzuführen. Dies setzt aber voraus, dass nach dem maßgeblichen Stand der Technik für die Lärmbeurteilung und den Immissionsschutz die relevanten repräsentativen Immissionspunkte identifiziert werden, dort gemessen und dann auf der Grundlage dieser Messungen mittels geeigneter Berechnungen die Lärmbeurteilung durchgeführt werden kann. Ergibt sich dann in diesem Zusammenhang bei einem Vorhaben wie dem vorliegenden für einen Immissionspunkt, dass der dabei durch bloße Berechnung erzielte Wert in unmittelbarer Nähe zu dem Wert liegt, der nach (medizinischer) sachverständiger Beurteilung nach Verwirklichung des Vorhabens zusätzliche Schallschutzmaßnahmen auf der Liegenschaft einer betroffenen Partei notwendig machen würde, kann auf Basis eines substantiierten Parteivorbringens auch dieser Punkt einen entscheidenden Immissionspunkt darstellen, an dem eine entsprechende Messung zu erfolgen hat.”

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