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Aussetzung des Betriebs im größten Stahlwerk Europas?


 

Einführung

Im Urteil EuGH C-626/22, Ilva ua, ECLI:EU:C:2024:542 vom 25. 6. 2024 stellte die Große Kammer des Gerichtshofs klar, dass der Gesundheitsschutz Teil des Umweltschutzes ist und bei Erteilung sowie Überprüfung der Genehmigung einer Anlage nach der RL 2010/75/EU über Industrieemissionen („Industrieemissionsrichtlinie“, kurz „IE‑RL“; in Österreich: „IPPC-Anlage“, zB gemäß § 71b Z 1 GewO) berücksichtigt werden muss – ebenso wie alle potentiell schädlichen Schadstoffemissionen. Näher zu untersuchen ist der letzte Leitsatz: Es ist unzulässig, Maßnahmen zur Einhaltung des Genehmigungskonsenses bei starker Umweltverschmutzung (wiederholt) aufzuschieben.

 

Sachverhalt

Das Stahlwerk Ilva befindet sich in Taranto (Süditalien) und ist mit ca 1.500 ha Fläche und 11.000 Beschäftigten das größte Stahlwerk Europas. Es verfügt seit 2011 über eine Anlagengenehmigung gemäß den nationalen Umsetzungsvorschriften zur IE‑RL. Die RL regelt die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung durch industrielle Tätigkeiten von ca 50.000 Anlagen in der EU insbesondere durch Genehmigungs-, Betriebs- und Anpassungspflichten an den Stand der Technik („beste verfügbare Techniken“, kurz „BVT“).

Die vom Stahlwerk ausgehenden negativen Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit führten bereits zu einem Vertragsverletzungsverfahren und zwei Verurteilungen Italiens durch den EGMR (EGMR 24. 1. 2019, 54414/13, 54264/15, Cordella ua/Italien; EGMR 5. 5. 2022, 37277/16, A.A. ua/Italien; allgemeine Medienberichte zB hier und hier). Im Ausgangsverfahren klagten EinwohnerInnen die Anlagenbetreiberin zur Durchsetzung ihres Rechts auf Gesundheit. Das zuständige Mailänder Gericht ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung zu Fragen der IE‑RL.

 

Gesundheitsschutz ist Teil des Umweltschutzes

Zuerst stellte der EuGH klar, dass bei Erteilung und Überprüfung der Anlagengenehmigung die Auswirkungen der in der Anlage durchgeführten Tätigkeiten auf die Gesundheit zu bewerten sind (Ilva, Rz 104 f). In Italien war die Berücksichtigung von Gesundheitsgefahren nicht Teil des Verfahrens (Ilva, Rz 40, 98, 102).

Der Gesundheitsschutz ist ein wichtiges Schutzziel der IE-RL. Er ergibt sich allerdings erst bei näherer Betrachtung. Gemäß Art 5 Abs 1 iVm Art 11 lit a und c IE‑RL müssen bei Genehmigung und Betrieb einer Anlage geeignete Vorsorgemaßnahmen gegen Umweltverschmutzungen getroffen und es dürfen keine erheblichen Umweltverschmutzungen verursacht werden. Der Begriff „Umweltverschmutzung“ wird weit definiert, und zwar als „Freisetzung von Stoffen, Erschütterungen, Wärme oder Lärm in Luft, Wasser oder Boden, die der menschlichen Gesundheit oder der Umweltqualität schaden […]“ (Art 3 Z 2 IE‑RL; vgl Ilva, Rz 77, 80, 82, 88 f).

Dies begründete der EuGH neben dem Verweis auf Art 37 GRC (Umweltschutz) auch mit Art 35 GRC (Gesundheitsschutz). Dieser Grundsatz ist bei der Anwendung von Umsetzungsbestimmungen der IE‑RL ebenfalls zu berücksichtigen. Verallgemeinerungsfähig ist die Schlussfolgerung, dass „ein hohes Gesundheitsschutzniveau ohne ein hohes Umweltschutzniveau nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung nicht erreicht werden kann“ (Ilva, Rz 71 f).

 

Umfassende Berücksichtigung von Schadstoffen

Ferner sind der Genehmigung und Überprüfung von Anlagen sämtliche Schadstoffe in Emissionen zugrunde zu legen, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen schädlich sind und von der Anlage emittiert werden können (Ilva, Rz 122; vgl Art 14 Abs 1 lit a IE‑RL). Bei der Genehmigung des Stahlwerks Ilva wurden Feinstaubpartikel (PM2,5; PM10), Kupfer, Quecksilber und Naphthalin nicht berücksichtigt (Ilva, Rz 107). Erfahrungen mit Schadstoffemissionen aus dem Betrieb der Anlage sind bei der Festlegung zusätzlicher (nachträglicher) Auflagen zu berücksichtigen (Ilva, Rz 118).

 

Einhaltung des Genehmigungskonsenses kann nicht (wiederholt) aufgeschoben werden

Schließlich erkannte der EuGH, dass es gegen die IE‑RL verstößt, die Frist zur Umsetzung der in der Genehmigung angeführten Umweltschutzmaßnahmen (wiederholt) zu verlängern, obwohl schwere und erhebliche Gefahren für Umwelt und Gesundheit bestehen. Diesfalls muss der Anlagenbetrieb jedenfalls ausgesetzt werden (Ilva, Rz 132). Die Einhaltung der 2012 geänderten Anlagengenehmigung des Stahlwerks Ilva wurde hingegen über mehr als elf Jahre wiederholt verlängert (Ilva, Rz 124; näher GA Kokott C-626/22, Ilva ua, ECLI:EU:C:2023:990, Rz 41, 44 f).

Der Leitsatz ist wenig überraschend, allerdings sind die Rechtsgrundlagen aufgrund der unklaren Darstellung des Sachverhalts im Urteil schwer zu identifizieren. Ausführlicher war GA Kokott: Das Stahlwerk erhielt erstmals 2011 eine Genehmigung nach der damaligen RL 2008/1/EG. 2012 wurde die Genehmigung geändert, namentlich wurden Maßnahmen zur Reduktion nachteiliger Umweltauswirkungen festgelegt. Deren Einhaltung wurde durch Sondergesetze immer wieder aufgeschoben (GA Kokott, Rz 41–45).

Der EuGH führte einige RL-Bestimmungen an: Zunächst verwies er auf Art 21 Abs 3 IE‑RL (Ilva, Rz 126). Dieser regelt die Anpassung des Genehmigungskonsenses und die nachfolgende Adaptierung der Anlage, die innerhalb einer Frist von vier Jahren ab Veröffentlichung neuer BVT-Schlussfolgerungen (mit denen der Stand der Technik rechtsverbindlich festgelegt wird) zu erfolgen hat. Im Sachverhalt blieb jedoch unklar, ob neue BVT-Schlussfolgerungen im Jahr 2012 der Grund für die Änderung des Genehmigungskonsenses und den Anpassungsbedarf der Anlage waren. Diesfalls hätte die Anlage bis 28. Februar 2016 adaptiert werden müssen. (vgl GA Kokott, Rz 147–151).

Näher zu betrachten ist Art 8 IE‑RL. Gemäß Art 8 Abs 1 IE‑RL sind Genehmigungsauflagen (innerstaatlich: Genehmigungskonsens) immer einzuhalten. Widrigenfalls sieht Art 8 Abs 2 IE‑RL die Vorschreibung und Setzung von Wiederherstellungsmaßnahmen vor. Gemäß Art 8 Abs 2 UAbs 2 IE‑RL, auf den der EuGH in seinem Leitsatz abstellte, ist der Anlagenbetrieb einzustellen, wenn ein Verstoß gegen die Genehmigungsauflagen eine unmittelbare Gefährdung der Gesundheit verursacht oder eine unmittelbare erhebliche Gefährdung der Umwelt darstellt.

Der Gerichtshof ließ jedoch offen, ob Art 8 IE‑RL generell die Einräumung von Fristen ermöglicht (vgl Ilva, Rz 127 f). Er stellte nur fest, dass der Aufschub von Maßnahmen bei erheblicher Umweltverschmutzung unzulässig ist. Gemäß Art 8 Abs 2 lit a und b IE‑RL hat der Betreiber bei Nichteinhaltung des Genehmigungskonsenses „unverzüglich“ die zuständige Behörde zu informieren und Maßnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung der Anforderungen „so schnell wie möglich“ wiederherzustellen. Ferner hat die Behörde gemäß lit c der Bestimmung dem Betreiber geeignete und erforderliche Maßnahmen vorzuschreiben. Der Wortlaut der Bestimmung steht der Einräumung von Fristen zwar nicht entgegen. Fristen müssen aber die möglichst schnelle („so schnell wie möglich“) Wiederherstellung des Genehmigungskonsenses gewährleisten. Sie sollen den Anlageninhaber nicht von seinen Pflichten entbinden. Großzügige Fristen oder ein Aufschub widersprechen daher schon Art 8 Abs 2 IE-RL. Sie sind ferner nicht mit dem in Art 8 Abs 1 IE‑RL ausgedrückten Grundsatz, wonach Genehmigungsauflagen immer einzuhalten sind, und dem Umweltschutzzweck der RL vereinbar.

Die italienische Regierung brachte vor, dass die Anpassung der Anlage zu einer mehrjährigen Unterbrechung des Betriebs geführt und damit Arbeitsplätze gefährdet hätte (Ilva, Rz 129). Der EuGH ging auf dieses Argument nicht ein. Art 8 IE‑RL lässt, wie skizziert, für derartige Interessen keinen Raum. Die Verfolgung volkswirtschaftlicher (sozialer) Kosten und Nutzen kann allenfalls auf weit vorgelagerter Ebene bei Festlegung der BVT berücksichtigt werden (vgl Art 3 Z 10 IE‑RL; näher Auner, Das gewerberechtliche Sonderregime von IPPC-Anlagen [2020] 81).

Zudem führte der EuGH ErwGr 43 IE‑RL an, dem zufolge die Vorschriften der IE‑RL für bestehende Anlagen erst später gelten sollen (Ilva, Rz 130). Der Erwägungsgrund wird in Art 82 IE‑RL positiviert, wonach die IE-RL für bestimmte (zB metallverarbeitende) Tätigkeiten erst ab 7. 1. 2014 (nicht bereits ab 7. 1. 2013 gemäß Art 80 IE‑RL) anzuwenden ist. Ob die Anlagengenehmigung aufgrund einer Anpassung an die IE‑RL abgeändert wurde, ist aus dem Sachverhalt jedoch nicht ersichtlich.

In ihren Schlussanträgen setzte sich GA Kokott mit dem weiteren Vorbringen von Ilva und der italienischen Regierung auseinander, dass der Aufschub der Einhaltung des Genehmigungskonsenses mit der Einschränkung der Produktion gerechtfertigt werden könne (GA Kokott, Rz 143). Zutreffend führte sie aus, dass auch ein reduzierter Anlagenbetrieb in der Regel nicht zur Einhaltung der Emissionsgrenzwerte (Genehmigungsauflagen) führt. ZB sind die relevanten Luftemissionswerte für die Erzeugung von Eisen und Stahl als Masse der emittierten Stoffe pro Volumen der Abgabe oder pro Masseeinheit der hergestellten Produkte definiert. Sie sind damit von einer geringeren Produktionskapazität unabhängig (GA Kokott, Rz 145).

 

Fazit

Im vorliegenden Urteil stellte der EuGH Offensichtliches fest. Auf das Stahlwerk Ilva bezogen zeigt sich, wie weit dessen Betrieb von der Einhaltung des Genehmigungskonsenses entfernt ist. Das hält der EuGH illustrativ – ohne danach gefragt worden zu sein – am Ende des dritten Leitsatzes fest: Verursacht eine Anlage schwere und erhebliche Gefahren für Umwelt und Gesundheit, ist der Betrieb in jedem Fall auszusetzen.

 

Autoreninfo

Dr. Alfred Benny Auner, LL.M. (WU) ist Universitätsassistent (Post-doc) am Fachbereich Öffentliches Recht der Universität Salzburg. Er forscht unter anderem zu IPPC-Anlagen. Dissertation: Das gewerberechtliche Sonderregime von IPPC-Anlagen (2020), Verlag Österreich.

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