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Peter Sander

Wegweisende EuGH-Entscheidung zum Seveso II-Recht


Der EUGH hat sich in seinem Erkenntnis vom 15.9.2011 (Rs C-53/10) mit der Umsetzung der Seveso II-Richtlinie (Richtlinie 96/82/EG des Rates vom 9.12.1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen) auseinandergesetzt, da ihm vom deutschen Bundesverwaltungsgericht die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt worden ist, ob sich die Seveso II-Richtlinie nur an Planungsträger richtet, die über die Nutzung von Flächen auf der Grundlage einer Abwägung der berührten öffentlichen und privaten Belange zu entscheiden haben, oder aber auch an Baugenehmigungsbehörden, die eine gebundene Entscheidung über die Zulassung eines Vorhabens in einem bereits im Zusammenhang bebauten Ortsteil zu treffen haben sowie weitere Folgefragen.

Der Ausgangsrechtsstreit war dabei ein recht simpler: Ein Seveso II-Betrieb wollte sich in einem Bauverfahren gegen das in Österreich als heranrückende Bebauung bekannte Phänomen wehren. Konkret sollte ein Gewerbebetrieb in einer Entfernung von nur rund 250 Meter eines größeren Chemiebetriebes angesiedelt werden. Unter anderem wurde von diesem Chemiebetrieb geltend gemacht, dass gewisse Mindest- und Sicherheitsabstände zu einem Seveso II-Betrieb einzuhalten seien.

In seiner Entscheidung hat der Gerichtshof zwar festgehalten, dass sich die Seveso II-Richtlinie zwar in erster Linie an die Politiken im Zusammenhang mit der Flächenausweisung und -nutzung richtet (Rz 19), aber insbesondere dann wenn eine entsprechende Planungsgrundlage fehlt (im konkreten Fall mangelte es an einem die Seveso II-Richtlinie umsetzenden Bebauungsplan) die konkrete Genehmigungsbehörde zur „Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit“ der Richtlinie selbst dieser Verpflichtung nachkommen muss. Untermauert wurde dies durch den EUGH mit einem Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf Umstände ihrer internen Rechtsordnung berufen dürften, um die Nichtbeachtung von Verpflichtungen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben, zu rechtfertigen (Rz 28-30).

Nach Klärung dieser Grundsatzfrage stellt es der Gerichtshof weiters außer Zweifel, dass die entsprechenden Verpflichtungen aus der Seveso II-Richtlinie (hier Mindest- und Sicherheitsabstände) jedenfalls zu berücksichtigen sind, ganz gleich ob auf der Planungs- oder auf der Genehmigungsebene. Er erkennt dabei zwar kein absolutes Verbot der Genehmigungserteilung, wenn die angemessenen Abstände entsprechend der Richtlinie nicht eingehalten werden (Rz 46), spricht aber gleichzeitig aus, dass eine nationale Regelung, soweit sie vorschreibt, dass die Genehmigung für die Ansiedlung eines Gebäudes zwingend zu erteilen ist, ohne dass die Risiken der Ansiedlung innerhalb der angemessenen Abstandsgrenzen im Stadium der Planung oder der individuellen Entscheidung gebührend gewürdigt worden wären, die Verpflichtung, dem Erfordernis der Wahrung angemessener Abstände Rechnung zu tragen, aushöhlen und damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben kann. Im Ergebnis würde daher Art 12 Abs 1 der Seveso II-Richtlinie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, nach der eine Genehmigung unter solchen Umständen zwingen zu erteilen wäre (Rz 51).

Meines Erachtens darf zwar bezweifelt werden, dass es sich dabei um eine Frage der richtlinienkonformen Auslegung von nationalen Rechtsvorschriften handelt (so aber der EUGH in Rz 52) und nicht vielmehr um eine Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie (ohne Planungsrechtsakt würden die angemessenen Abstände der Richtlinie direkt herangezogen werden, und es dürfte dann in simpler Anwendung des Baurechts ebene keine Bewilligung erteilt werden; das Baurecht selbst muss dabei meines Erachtens nicht richtlinienkonform interpretiert werden), doch hat diese Entscheidung weitreichende Konsequenzen auch für Österreich. Im Endeffekt bedeutet dies nämlich für all jene Gebiete im Umkreis von Seveso II-Betrieben, wo keine entsprechenden Raumplanerischen Ausweisungen vorgenommen worden sind, dass sich die jeweiligen Baubehörden nicht (mehr) auf allenfalls nicht dem Seveso-Regime entsprechende aber innerstaatlich betrachtet geltende Widmungsakte berufen können, sondern trotz dieser innerstaatlich vielleicht sogar bindenden Widmungsakte dennoch dem Unionsrecht entsprechen müssen, da ja entsprechend dem Urteil die Bewilligungsbehörde die „praktische Wirksamkeit“ des Seveso-Regimes sicherzustellen hat.

Insbesondere wenn man nun noch die fachliche und rechtliche Kompetenz von manchen österreichischen Baubehörden berücksichtigt, ist meines Erachtens davon auszugehen, dass Bauverfahren in der näheren Umgebung von Seveso II-Betrieben in Zukunft wohl komplexer werden.

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