Das Bundesverwaltungsgericht schockiert die österreichische Elektrizitätswirtschaft. Das Erkenntnis vom 28.08.2014, W104 2000178-1/63E, liest sich auf den ersten Blick so, als dürfte man in Österreich keine Stromfreileitungen mehr errichten, da es nicht mehr dem Stand der Technik entsprechen würde. Unter Berufung auf ein Verfahren vor dem Schweizer Bundesgericht heißt es in dem Erkenntnis doch, dass die dortige Anordnung der Teilverkabelung eines knapp 1 km langen Teilstücks einer Hochspannungsleitung im Übertragungsnetz aus Gründen des Landschaftsschutzes zeigt, dass der Stand der Technik zumindest für kurze Verkabelungsteilstücke in topografisch einfachen Gebieten in dauernder Entwicklung begriffen ist. Oder anders ausgedrückt: Der bisherige Stand der Technik (Freileitung!) wackelt bedenklich, was aber angesichts der ökologischen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht verwundern darf, ist doch die hier ausschlaggebende Judikatur des VwGH bereits einige Jahre alt (siehe zB VwGH 2007/05/0096).
Entscheidend war der Stand der Technik aber im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ohnedies nicht. Das Erkenntnis ist aus zwei anderen Gründen von besonderem Interesse:
Zum einen geht es um die Anwendung der Alpenkonvention und Ihrer Zusatzprotokolle im Rahmen der naturschutzrechtlichen Interessenabwägung. Das Gericht bejaht nämlich zunächst das öffentliche elektrizitätswirtschaftliche Interesse an der Errichtung einer 220 kV-Freileitung, und zwar an der Erhöhung der Übertragungskapazitäten insgesamt. Gleich darauf wird festgehalten, dass eine Errichtung genau in dem verfahrensgegenständlichen Landschaftskorridor dazu jedoch nicht erforderlich ist. Hier scheint sich die Projektwerberin selbst ein Bein gestellt zu haben, wird sie doch mit der Aussage zitiert, dass nach Errichtung der Steiermarkleitung und des ersten Abschnitts der Salzburgleitung eine „unmittelbare Gefährdung der Versorgungssicherheit Österreichs durch das gegenständliche Projekt derzeit nicht mehr“ vorliege. Dies verdeutlicht nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Erhöhung der Versorgungssicherheit jedenfalls keinen Hauptaspekt des Vorhabens darstellt.
Ausschlaggebend für die Versagung der Bewilligung waren jedoch die Bestimmungen des Energieprotokolls zur Durchführung der Alpenkonvention, welches unter Berufung auf die Judikatur des VwGH bei Interessensabwägungen aufgrund nationaler Gesetze jedenfalls anzuwenden ist (vgl zB VwGH 2004/03/0116). Dort heißt es in Art 10, dass bei Bauten von Stromleitungen soweit wie möglich bestehende Strukturen und Leitungsverläufe zu benutzen sind, wobei der Bedeutung der unversehrten naturnahen Gebiete und Landschaften sowie der Vogelwelt Rechnung zu tragen ist.
Unter „bestehenden Strukturen“ sind nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht nur bestehende Stromleitungsanlagen, sondern auch andere, insbesondere linienhafte Infrastrukturen zu verstehen, die bereits in Landschaften eingreifen.
Die Planung des beantragten Vorhabens erfolgte ohne Berücksichtigung des Gesichtspunktes, inwieweit bestehende Strukturen durch eine neue Leitung genutzt werden könnten. Dabei kommen insbesondere bestehende oder geplante Leitungsstränge oder Straßen in Frage. So wurde nach den Verfahrensergebnissen des Genehmigungsverfahrens erst kürzlich eine Kabeltrasse unter der Plöckenpassstraße und eine Freileitung im Kanaltal errichtet. Die Alternativenprüfung der Projektwerberin hat sogar ergeben, dass die Errichtung im Bereich der Plöckenpassstraße aus ökonomischer und ökologischer Sicht grundsätzlich machbar wäre. Aus diesen Aussagen schließt das Gericht, dass eventuell Probleme bei der Einhaltung der Vorsorgewerte für elektromagnetische Strahlung bei einzelnen Wohnbauten in der detaillierten Trassenplanung überwindbar sein könnten. Gegenteiliges wurde im Verfahren jedenfalls nicht nachgewiesen. Für diesen Fall wäre jedoch auch die Frage einer Führung als Freileitung entlang der Plöckenpassstraße mit Teilverkabelung in Ortsbereichen als Alternative offen, womit nach Ansicht des Verwaltungsgericht der Bestimmung des Art 10 Abs 1 und 3 des Energieprotokolls vom gegenständlichen Genehmigungsantrag nicht entsprochen wird. In der Konsequenz bedeutet dies in den Worten des Gerichts: „Für das Bundesverwaltungsgericht ist aus diesen Gründen das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Charakters des Landschaftsraumes Kronhofgraben höher zu bewerten als die anderen ins Treffen geführten öffentlichen Interessen an der Errichtung der Leitung. Die naturschutzrechtliche Interessenabwägung hat somit ergeben, dass den öffentlichen Interessen des Natur- und Landschaftsschutzes größeres Gewicht als anderen, durch das Vorhaben geförderten, öffentlichen Interessen zukommt.“
Aber auch aus einem Zweiten Grund ist das Erkenntnis beachtlich. Das Bundesverwaltungsgericht ist in diesem Verfahren im Devolutionsweg (noch als Umweltsenat) zur Entscheidung in der Sache zuständig geworden. Vollkommen zu Recht führt das Gericht daher eine Interessenabwägung nach dem (hier mitanzuwendenden) K-NSG durch. Richtigerweise qualifiziert das Bundesverwaltungsgericht diese Interessenabwägung auch als Wertentscheidung, zu deren Durchführung transparent und nachvollziehbar die für und gegen ein beantragtes Vorhaben sprechenden Argumente möglichst umfassend und präzise erfasst werden müssen. Dies alles freilich vor dem Hintergrund, dass diese Wertentscheidung einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich wird.
Wie das Bundesverwaltungsgericht aber selbst richtig festhält, ist die Entscheidung, welche Interessen überwiegen, in der Regel eine Wertentscheidung, da die konkurrierenden Interessen meist nicht monetär bewertbar und damit berechen- und vergleichbar sind. Somit ist aber gleichzeitig gesagt, dass eine gerichtliche Kontrolle dieses Kerns der Wertentscheidung nicht Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle sein kann, sondern eben immer nur die Rahmenbedingungen dafür, also die Erfassung der für und gegen ein Vorhaben sprechenden Argumente. Ansonsten würde man ja mit der skurrilen Situation konfrontiert sein, dass die Wertentscheidung einer Person (in aller Regel des Organwalters der entscheidenden Behörde) durch die Wertentscheidung einer anderen Person (eines Verwaltungsrichters) ersetzt werden würde. Dass dies mit dem Konzept einer (verwaltungs-) gerichtlichen Kontrolle der Behörden nicht vereinbar ist liegt auf der Hand – sonst hätte der Verfassungsgesetzgeber wohl die zweite Instanz im Verwaltungsverfahren nicht durch unabhängige Gerichte ersetzt. Kein anderes Verständnis kann also dem § 28 Abs 4 VwGVG unterstellt werden. Bei der Interessenabwägung ist das Gericht – zumindest sofern es um den Kern einer Wertentscheidung geht – auf die nachprüfende Kontrolle der richtigen und vollständigen Grundlagenerhebung für diese Wertentscheidung beschränkt. Die Wertentscheidung selbst darf natürlich nicht durch eine andere ersetzt werden (siehe dazu auch bereits meinen Hinweis zu einer Entscheidung des LVwG Tirol aus dem Mai des heurigen Jahres hier).
Im gegenständlichen Fall war freilich alles richtig. Das Bundesverwaltungsgericht ist ja im Devolutionsweg zur umfassenden Sachentscheidung zuständig geworden und hat somit völlig zu recht eine (eigene) Wertentscheidung im Rahmen der naturschutzrechtlichen Interessenabwägung getroffen.