Am 29. Juli 2024 traf der EuGH mit C-436/22 erneut eine Entscheidung zur Auslegung der Richtlinie 92/43/EWG (FFH-RL) im Zusammenhang mit dem Wolfsschutz. Konkret ging es dabei um die Frage, wie eine regionale Regelung zu bewerten ist, nach der der Wolf eine jagdbare und bejagbare Art darstellt, obwohl auf nationaler Ebene ein ungünstiger Erhaltungszustand besteht.
Sachverhalt
In Spanien unterliegen die Populationen des Iberischen Wolfs unterschiedlichen Schutzregelungen: Anhang IV der FFH-RL nennt den spanischen Canis Lupus als streng zu schützende Tierart von gemeinschaftlichem Interesse, nimmt aber die Populationen nördlich des Flusses Duero explizit aus. Anhang V der FFH-RL nennt wiederum die Populationen nördlich des Duero als Tierart von gemeinschaftlichem Interesse, deren Entnahme aus der Natur und Nutzung Gegenstand von Verwaltungsmaßnahmen sein können.
In Kastilien und Léon wurden diese Vorgaben dahingehend umgesetzt, dass der Wolf nördlich des Duero per Regionalgesetz zur jagdbaren und bejagbaren Art erklärt wurde. Auf dieser Grundlage genehmigte die Generaldirektion für Naturerbe und Forstpolitik von Kastilien und León in den Jagdsaisonen 2019/2020, 2020/21 und 2021/2022 jeweils Pläne, die die lokale Nutzung des Wolfs in den Jagdgebieten nördlich des Duero ermöglichten.
Diese Pläne beruhten wiederum auf Ergebnissen von zwischen 2012 und 2014 durchgeführten Wolfszählungen sowie jährlichen Monitoringberichten. Die nationalen Zählungen ergaben, dass ca 60 % der spanischen Wolfsrudel auf Kastilien und León entfielen, wodurch (gemäß dem Plan) eine Mortalitätsrate von mehr als 35 % zu einem gesamten Rückgang der Population führen würde. Aus einem Bericht Spaniens an die Kommission für den Zeitraum 2013 bis 2018 geht zudem hervor, dass sich der Wolf in der mediterranen und der atlantischen Region in einem ungünstigen Erhaltungszustand befand, wobei diese Regionen das Gebiet von Kastilien und León umfassen.
ASCEL (Asociación para la Conservación y Estudio del Lobo Ibérico) erhob Beschwerde gegen den den Nutzungsplan genehmigenden Beschluss der Generaldirektion und zog schließlich vor das kastilische Obergericht, welches Zweifel ob der Vereinbarkeit des Regionalgesetzes mit der FFH-RL hegte.
Zu den Vorlagefragen
Konkret legte das kastilische Obergericht dem EuGH sinngemäß folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:
1. Stehen Art 2 Abs 2 sowie Art 4, 11, 12, 14, 16 und 17 der FFH-RL einem Regionalgesetz entgegen, das den Wolf zur jagdbaren und bejagbaren Art erklärt und infolgedessen seine lokale Nutzung genehmigt wird, obwohl ein ungünstiger Erhaltungszustand besteht?
2. Ist es mit dem in Art 2 Abs 2 FFH-RL genannten Ziel vereinbar, den Wolf unter unterschiedliche Schutzregelungen zu stellen, je nachdem, ob er sich nördlich oder südlich des Duero befindet, in Anbetracht dessen, dass (i) die Unterscheidung als wissenschaftlich unangemessen gilt, (ii) der Erhaltungszustand ungünstig ist, (iii) der Wolf in praktisch allen Mitgliedstaaten, insb dem Nachbarsstaat Portugal, streng geschützt ist und (iv) die Rsp des EuGH darauf hindeutet, dass es eher mit Art 2 Abs 3 FFH-RL in Einklang stünde, nicht zwischen Populationen nördlich und südlich des Duero zu unterscheiden?
Zur Entscheidung des Gerichtshofs
Zusammenfassend kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass das kastilische Regionalgesetz nicht mit der FFH-RL in Einklang zu bringen ist.
Der Gerichtshof wies einleitend auf die Ziele der FFH-RL hin, die gem Art 2 Abs 1 darin bestehen, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen beizutragen. Abs 2 sieht vor, dass die aufgrund der RL getroffenen Maßnahmen darauf abzielen, einen günstigen Erhaltungszustand von Lebensräumen sowie Tier- und Pflanzenarten zu bewahren bzw wiederherzustellen.
In Hinblick auf diese Ziele kann eine Aufnahme einer Art in Anhang V der FFH-RL (wie in diesem Fall der Wolfpopulation nördlich des Duero) nicht in dem Sinne verstanden werden, dass ihr Erhaltungszustand grundsätzlich günstig ist. Eine Aufnahme in Anhang V bedeutet lediglich, dass die Art Gegenstand von Verwaltungsmaßnahmen sein „kann“.
In Bezug auf diese Verwaltungsmaßnahmen führte der Gerichtshof aus, dass die Mitgliedstaaten über einen Ermessenspielraum verfügen, um festzustellen, ob es notwendig ist, die Nutzung von Exemplaren in Anhang V genannter Arten zu begrenzen. Handelt es sich dabei um waidmännische Regeln iSd Art 14 Abs 2 FFH-RL, können diese nur dazu dienen, die Entnahme einzugrenzen und nicht auszuweiten. Zum Zweck der Eingrenzung kann die Entnahme auch gänzlich verboten werden. Zudem ist der Ermessenspielraum der Mitgliedstaaten mit der Pflicht begrenzt, darauf zu achten, dass Entnahme und Nutzung von Exemplaren einer Art mit deren günstigen Erhaltungszustand vereinbar sind.
Zudem hielt der Gerichtshof fest, dass eine Entscheidung, die eine Art für jagdbar erklärt, begründet und auf Daten über den Erhaltungszustand dieser Art gestützt werden muss. Diese Voraussetzungen sah der EuGH im konkreten Fall mangels Beachtung des Berichts Spaniens, der dem Wolf einen ungünstigen Erhaltungszustand bescheinigte, nicht erfüllt. Eine Art darf daher nicht bejagt werden, wenn eine wirksame Überwachung ihres Erhaltungszustands nicht sichergestellt ist.
Bei der Beurteilung des Erhaltungszustands und der Frage, ob Maßnahmen zur Begrenzung der Nutzung einer Art angezeigt sind, müssen neben dem gem Art 17 FFH-RL zu erstellenden Bericht auch neueste wissenschaftliche Monitoringdaten berücksichtigt werden. Die Beurteilung ist nicht nur lokal, sondern auch national und grenzüberschreitend durchzuführen (so auch vor kurzem festgehalten in C-601/22). Wird ein ungünstiger Erhaltungszustand festgestellt, sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, Maßnahmen zu dessen Verbesserung zu treffen, sodass die Populationen der betroffenen Art in Zukunft dauerhaft einen günstigen Erhaltungszustand erreichen können. Im Sinne des Vorsorgeprinzips können Schutzmaßnahmen wie die Beschränkung oder das Verbot der Jagd notwendig sein, wenn Risiken hinsichtlich der Erhaltung dieser Art in einem günstigen Erhaltungszustand bestehen.
Fazit
Mit seiner Entscheidung hält der EuGH fest, dass die Jagd betreffende Maßnahmen iSd Art 14 Abs 2 FFH-RL nur dazu dienen können, die Entnahme bzw Nutzung von Exemplaren dieser Art einzugrenzen und nicht auszudehnen. Ist der Erhaltungszustand einer Art ungünstig, sind die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Es kann in diesem Fall im Sinne des Vorsorgeprinzips sogar notwendig sein, die Entnahme einer Art gänzlich zu verbieten. Zudem werden hohe Anforderungen an die der Entscheidung zugrunde gelegten Daten gestellt – es müssen die neuesten wissenschaftlichen Daten, einschließlich jener, die aus der Überwachung gem Art 11 FFH-RL stammen, berücksichtigt werden.
In Österreich bestehen keine Ausnahmen vom strengen Schutzsystem des Wolfs gem Art 12 Abs 1 iVm Anhang IV der FFH-RL. Regionale Regelungen, die die Entnahme von Wolfsexemplaren ohne Einzelfallprüfung ermöglichen, sind dementsprechend nicht zulässig. Dennoch könnte die vorliegende Entscheidung des EuGH insb in Hinblick auf die von Österreich zu erhebenden Daten zur Ermittlung des Erhaltungszustands relevant sein. Da in Österreich genetische Feststellungen auf Landesebene und vorwiegend im Fall von Nutztierrissen durchgeführt werden, lassen sich meist keine exakten Aussagen zum Bestand treffen, sodass eine wirksame Überwachung des Erhaltungszustands nicht gesichert scheint.
* Veronika Marhold, LL.M. (WU) ist Universitätsassistentin prae doc am Institut für die Internationalisierung des Rechts der WU Wien.